





















Das ist Annemarie Winter. Ich besuche die 81 Jährige in ihrer momentanen Wohnung: Die Altenwohnungen der Diakonie in Essen Borbeck. Hier wohnt sie in einer von 40 Wohnungen für Senioren und Seniorinnen und hat damit ein Einzelapartment für sich allein.
In einer hellen, mit Teppichboden ausgelegten Wohnung, die liebevoll eingerichtet ist, werde ich herzlich empfangen. An den Wänden hängen jede Menge Fotos, ich vermute von Verwandten, denn auf einigen Abbildungen erkenne ich Annemaries Gesicht.
Annemarie steht in ihrem Wohnzimmer und zeigt auf ein großes, in einem kastanienbraunen Rahmen platziertes Foto an der Wand, auf dem ich eins, zwei, drei, sieben, elf, ach was, einundzwanzig ‘junge Menschen‘ zähle, die alle charmant in die Kamera grinsen. Das sind Annemaries 11 Enkel, 5 Kinder und 5 Schwiegerkinder, auf die sie alle so stolz ist! Wer so eine große Familie hat, ist ziemlich gesellig. Wie soll es auch sonst sein? Sie kennt es gar nicht anders aus ihrem Leben, als in direkter Gesellschaft zu sein und immer ihre Familie um sich zu haben. Das Familienleben ist vielleicht kein Hobby, aber einer von sieben wichtigen Bestandteilen in Annemaries Leben.
Sie nimmt mich mit auf eine Reise durch ihren Alltag, in dem sie allerlei tut und macht. Ich lerne die anderen sechs Freizeitaktivitäten der Essenerin kennen.
Wie aktiv Annemarie mit ihren 81 Jahren ist, bekommen auch die anderen Hausbewohner mit. Wenn sie nicht wäre, würde hier einiges nicht stattfinden. Zusammen mit ihrer älteren Schwester organisiert Annemarie ein gemütliches Kaffetrinken für alle Senioren und Seniorinnen des Borbecker Hauses. Nummer zwei der sieben Hobbies der Essener Rentnerin. Jeden Dienstag kommen also immer mindestens 20 Bewohner und Bewohnerinnen zusammen – eben jeder, der Interesse hat, ist herzlich eingeladen.
Für Kaffee und Wasser ist dank Annemarie immer gesorgt und auch um die richtige Stimmung kümmert sie sich: Passende Tischdekoration und kleine Accessoires je nach Anlass kommen zum Einsatz. Leckereien für Allemann sind auch immer da, der Kuchen ist allerdings vom Geburtstagskind oder einem ausgewählten Bewohner mitzubringen – schmecken tut es jedes Mal.
Und wie sieht so ein Dienstagnachmittag dann genau aus? Neben den Gesprächen wird während der fast dreistündigen Treffen gesungen, gedichtet und geschauspielert. Lieblingslieder über die Heimat, die Liebe, das Leben, über den Geburtstag, den Karneval oder den Beginn einer Jahreszeit werden angestimmt. Annemarie besorgt aber auch neue Liedtexte, die sie an alle austeilt und bei denen jeder mitmacht. Für weitere Unterhaltung sorgen kleine Inszenierungen, die von Einzelnen vorgestellt werden. Auch diese Texte kommen von Annemarie, sie hat sie über Jahre hinweg bei jeder sich anbietenden Gelegenheit gesammelt. Ihre sogenannten „Einlagen“ feiern dienstags immer ihre Premieren und sorgen für jede Menge Lacher aber auch nachdenkliche Momente. Es sind kleine Dialoge, Gedichte oder Erzählungen aus dem Leben, mit denen sich viele der Anwesenden identifizieren können.
Der Bewohner-Treff ist von vorne bis hinten in Annemaries Verantwortung. Von daher ist sie nicht nur für die Planung und Durchführung, sondern auch für die entsprechende Nachbereitung zuständig. Ihre Schwester und einer ihrer Freundinnen helfen ihr, alles wieder in Ordnung zu bringen. Mittlerweile kennen sich hier alle in dem Raum der Kirche aus und bringen alles wieder an den richtigen Platz. So kann hier nächste Woche wieder ein geselliger Abend verbracht werden.
Zurück in Annemaries Wohnung. Hier fühlt Annemarie sich sehr wohl, ihr Lieblingsplatz ist der Balkon. Von ihm aus kann sie ganz Borbeck überblicken, das fasziniert sie immer wieder aufs Neue. Heute ist ein sonniger und fast wolkenfreier Tag, man kann den Kirchturm der Pfarrkirche in Borbeck Mitte richtig gut erkennen. Annemarie erinnert sich an die Dreharbeiten für die WDR-Reportage vor 7 Jahren. Das gesamte Filmteam stand mit ihr auf diesem Balkon, um sie herum Scheinwerfer, Kameras und Mikrofone. Auf einer furchtbaren Enge hat Annemarie hier die Fragen der Reporterin beantwortet – aber dazu später mehr.
Jetzt fällt Annemaries Blick auf ihre eigens angelegten Blumenkästen, Hobby Nummer Drei. Sie scheint ein Händchen dafür zu haben, denn die Stiefmütterchen und Petunien blühen in voller Pracht. So mag sie ihren Balkon am liebsten, hier kann sie auch abends noch sitzen und frische Luft atmen.
Annemarie sitzt in der Küche. Unregelmäßige kurze Töne verraten, dass sie an ihrem alten Handy mit Tastentönen sitzt. Wenn es nach ihren Kindern gehen würde, hätte Annemarie schon längst ein Smartphone mit Touchscreen und Internetfunktion. Dann könnte sie schließlich die Fotos ihrer Enkelkinder direkt aufs Handy geschickt bekommen und erleben, was im Leben ihrer Familie vorgeht, selbst wenn sie hier an diesem Küchentisch sitzt – sagt ihre jüngste Tochter immer. Aber diese Geräte sind Annemarie nicht ganz geheuer und eigentlich ist sie auch mit ihrem aktuellen Handy zufrieden. Damit kann sie im ganzen Haus und von unterwegs aus telefonieren und SMS versenden. So schnell wie ihre Enkel und Kinder auf diesen neuen Handys herum tippen, bekommt sie das eh nicht hin und dann spricht sie lieber persönlich mit ihren Familienangehörigen!
Die oben erwähnten Geschichten schreibt Annemarie übrigens an ihrem eigenen PC – selbstverständlich. Das hat ihr Mann ihr mal gezeigt und damit kommt sie ziemlich gut klar. So kann sie, wann immer sie will, Texte schreiben, verändern oder korrigieren und direkt selber ausdrucken. Ich bin beeindruckt! Einer ihrer Enkel fragt sie manchmal scherzhaft, wie sie es schafft mit so einem alten Betriebssystem, Windows98, zu arbeiten, aber für Annemaries Zwecke ist dieses Programm genau richtig. Sie kann damit Texte für die Kirche, Briefe oder ihre „Einlagen“ für die Hausgemeinschaftstreffen abtippen. Das genügt doch. Und die Ideen für die Programmpunkte kommen alle aus Annemaries Kopf – dafür braucht sie kein Internet!
Abends nimmt Annemarie sich gerne etwas Zeit für Fernsehen gucken. Die Begegnungen mit Technik könnte man als vierte Freizeitbeschäftigung der Essenerin sehen: Sie hat ein eigenes Handy, ihre eigenen PC und schaut gerne Fernsehen. Am liebsten Reportagen und Fußball – immerhin ist sie ein echtes Ruhrpott-Urgestein. In einer Dokumentation hat sie sogar schon einmal selbst mitgespielt. Über die Kirchengemeinde sprach sie damals jemand an, der eine Person suchte, die in den 1960ern in einer großen Familie mit finanziell knappen Ressourcen aufgewachsen ist. Diese Kriterien passten gut auf Annemarie, genaugenommen sogar sehr gut und so wurde sie Teil der WDR-Produktion „Kopfüber in die 60er“. Sie weiß noch ziemlich genau, was das Fernsehteam alles fragte: Als Zeitzeugin für die 1960er Jahre erzählte sie über ihre Rolle als Ehegattin, als Mutter, als Hausfrau, von den Krisen und Herausforderungen der Aufklärung, der Unterordnung und der Sparsamkeit. Fünf Kinder zu ernähren war keine Leichtigkeit, aber Annemarie galt als Überlebenskünstlerin. Sie kochte dann für die Reporterin die Suppe, die sie damals oft zubereitete und die sich ihre Kinder noch heute häufig von ihr wünschen: Gemüseeintopf auf Sandknochenbasis. Dieser Küchen-Klassiker hat die 60er wohl überlebt – genau wie Annemarie.
Die Kirche ist für Annemarie ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Sie war lange Hausmeisterin der Gemeinde St. Dionysius in Borbeck Mitte. Heute ist sie immer noch jeden Sonntag beim Gottesdienst und sammelt die Kollekte für die Kirche.
Außerdem trifft sie hier alte Bekannte, mit denen sie gerne ein kleines Pläuschchen hält. Und so sind wir schon bei Hobby Nummer Fünf.
Wer denkt, dass Annemarie mit ihren 81 Jahren keinen Sport mehr treiben kann, der hat sich gewaltig vertan. Wenn sie nicht gerade Zeit mit ihren Kindern und Enkeln verbringt, nicht mit ihren Mitbewohnenden singt, grade außerhalb der Kirche ist und weder den Fernseher, noch das Handy oder den Computer bedient, dann macht Annemarie Sport. Und zwar jeden Freitag beim SGS Schönebeck. Hier macht Annemarie Wassergymnastik und das schon seit 20 Jahren. Beim Hobby Nummer sechs unterhält sie sich mit ihren Sport-Freundinnen und -Freunden und hält sich körperlich fit.
Die Woche von Annemarie schließt immer mit einer Spritztour im alten Ford Fiesta ab. Annemarie kam ziemlich lange ohne Auto durchs Leben, doch vor 30 Jahren etwa entschloss sie sich doch den Führerschein zu machen und legte gemeinsam mit ihrer jüngsten Tochter erfolgreich die Prüfung ab. Heute fährt sie sehr gerne in ihrem fast 20 Jahre alten Wagen, am liebsten mit ihrer Schwester durchs Essener Land. Dann düsen die beiden Rentnerinnen so schnell der fast Oldtimer sie trägt– das ist Hobby Nummer Sieben.
Rentner müsste man sein, denk ich. Zeit für sieben Hobbies in sieben Tagen: Mich mit meinen Kindern treffen und am Leben meiner Enkel teilnehmen, lustige Abende mit den Hausbewohnenden verbringen, Blumen pflegen, mich mit Technik auseinandersetzen und kreativ sein. Oder ich gehe in die Kirche, bin in Kontakt mit meiner Borbecker Gemeinde, treffe alte Freunde beim Schwimmen und durchquere das Land auf Bundesstraßen und Autobahnen. Das hört sich zwar nach vielen Terminen aber auch nach jeder Menge Spaß und Lebensfreude an! Obwohl – das ist auch nicht nur ein Leben auf der Sonnenseite. Vieles geht nicht mehr so wie früher und mittlerweile lebt Annemarie als Witwe. Doch sie ist eine von den Positiven. Annemarie ist so aktiv, wie es ihr nur möglich ist. Ihre Lebenskraft schöpft sie aus den Begegnungen mit anderen Menschen und jeder Menge Lebenserfahrung. Und eins hat sie in den bisherigen 81 Jahren gelernt: Ich lass‘ mich nicht unterkriegen!